Sandsturm in der digitalen Lehre
Anwendungen wie Sandstorm haben das Potenzial, die webgestützte Kollaboration von Lernenden und Lehrenden bedeutend zu verändern.
Viel Sand
Die Zahl und Vielfalt von Online-Tools, die für Lehre und Unterricht einsetzbar sind, ist fast nicht mehr zu überblicken. Es vergeht kein Monat, in dem nicht neue Applikationen ins Netz kommen, oftmals allerdings als Freemium-Angebot, mit wenig Verlass auf die Beständigkeit des dahinter stehenden Unternehmens, mit wenig Chancen auf Erweiterbarkeit und Mitgestaltung, vom Datenschutz ganz zu schweigen. Bei sinnvollen Lösungen vergeht aber mittlerweile nicht viel Zeit, bis die Freie-Software-Community beginnt, die Anwendungen nachzubauen. So z.B. zu beobachten beim Wettlauf zwischen Rocket.Chat und Mattermost, die beide angetreten sind, um eine frei verfügbare Alternative zu Slack zu entwickeln. Eine beeindruckende Liste aller möglichen quelloffenen Anwendungen, die selbst gehostet werden können und für Lehre und Unterricht einsetzbar sind, findet sich bei GitHub.
Als überzeugter User von Freier Software und Vermeider von Online-Lösungen in rechtlich bedenklichen Zusammenhängen versuche ich, hin und wieder Kollaborationstools in meiner Veranstaltung “Einführung in die Informatik” vorzustellen und einzusetzen. Dass ich das nur hin und wieder tue, liegt u.a. daran, dass ich nicht die Zeit habe, die freien Lösungen so aufzusetzen, dass sie für die Lehre einsetzbar sind. Und viele Rechenzentren und Schuladmins haben (noch) nicht die Kapazitäten, mal eben eine Webanwendung zu installieren, um sie in Lehre oder Unterricht zu erproben.
Sandstorm für die persönliche und private Cloud
Anwendungen wie Sandstorm könnten hier helfen. Der Chefentwickler, Kenton Varda, sieht ähnliche Probleme, was Verbreitung und Einsatz freier und offener Softwareprojekte angeht. Das Projekt Sandstorm wurde 2014 auf indiegogo erfolgreich schwarmfinanziert und steht zur produktiven Nutzung bereit. Der letzte Blogeintrag zu maßgeblichen Fortschritten stammt vom 22. Januar 2016 und weist auf eine aktive Community hin. Sandstorm will ein “open source operating system for personal and private clouds” (Homepage) sein und hat das Potenzial, die digitale Lehre ein Stück voranzubringen, weil es an Flexibilität und Einfachheit konkurrenzlos ist. Ich hatte es bisher nicht auf dem Schirm und wundere mich, dass ich eher zufällig darauf aufmerksam geworden bin. Und ich wundere mich, dass es in der deutschen (Hoch)schullandschaft bisher noch nicht besprochen wurde1. Im folgenden werde ich vorstellen, wie Sandstorm funktioniert und welche Möglichkeiten ich darin für die digitale Lehre sehe.
Wie’s gedacht ist und was es kann
“We need open source software to fill the niches that big companies aren’t interested in, and to push the boundaries they find too risky. We need software that can be tweaked without permission to try new things without starting from scratch. It honestly seems absurd to me that we don’t really have this on the web today.” Kenton Varda, 2014
Sandstorm kann auf einem eigenen Server installiert werden oder auf der Website des Projekts als Dienst genutzt werden2. Einzelne Nutzerinnen und Nutzer registrieren sich in der Anwendung. Anschließend ist es ihnen möglich, typische Web-2.0-Tools mit zwei Klicks aus einem App-Markt zu installieren. Das entspricht den Nutzungsgewohnheiten mit Smartphones und den dazugehörigen Stores. Der Umfang des App-Angebots ist zum bisherigen Projektstand schon beeindruckend. Eine Auswahl:
- Etherpad (gemeinsam einseitige Dokumente schreiben)
- Dillinger (Markdown-Editor)
- NodeBB (moderne Forumlösung)
- DokuWiki
- MediaWiki (Die Software, auf der auch die Wikipedia läuft)
- GitLab (GitHub zum Selberhosten)
- Ghost (minimalistische Blogsoftware)
- Wordpress (Klassiker)
- MediaGoblin (dezentrales Teilen von Medien)
So genannte SPK-Dateien hochzuladen, ermöglicht die eigene Erstellung/Verpackung geliebter Anwendungen als Sandstorm-App. Hier hat Sandstorm die gleiche Offenheit wie Android, das auch die Installation selbst entwickelter Anwendungen erlaubt. Nochmal im Klartext: Ich installiere einmal Sandstorm und kann dann das Toolset zusammenstellen, das ich für meine Lehre und mein Lernen brauche! Oder: Ein Rechenzentrum installiert einmal Sandstorm und Lehrende wie Lernende können sich zusammenklicken, was ihren Nutzungsgewohnheiten bzw. dem didaktischen Setting entspricht. Die Apps in Sandstorm können untereinander kommunizieren, User können einander in Sandstorm ansprechen. Damit folgt Sandstorm dem Ansatz, das Web als Föderation sozialer Services zu denken und treibt die Dezentralisierung von serverseitigen Anwendungen vorana,b,c,d.
Beispiel: WeKan
An einem konkreten Beispiel werde ich die Nutzung von Sandstorm einmal durchspielen. Trello ist als Projektmanagementtool bei meinen Studierenden sehr beliebt. WeKan ist ein Nachbau, der es mit Trello aufnehmen will. Das Projekt ist direkt als Sandstorm-App entstanden und sieht eine manuelle Installation gar nicht mehr vor. Als Alternative zur Sandstorm-App wird WeKan nur noch als Docker-Image angeboten. Diese Entwicklung zeigt mir, dass die Community viel Hoffnung in Sandstorm setzt und dass Docker nur eine evolutionäre Vorstufe war, der mit dem SPK-Format nun die Kapselung komplexer Anwendungen in einem noch höher automatisierten Verfahren folgt.
In Sandstorm brauche ich zwei Klicks, um WeKan aus dem App-Markt zu installieren. Anschließend kann ich beliebig viele Kanban-Boards anlegen.
Kollaboration
Das Board fülle ich dem Anwendungszweck entsprechend. Für die Zusammenarbeit mit anderen hält Sandstorm ein einfaches Konzept bereit: Einladung per Mail oder per Link. So kann sowohl ein ausgewählter Nutzerkreis wie eine Seminargruppe als auch Allewelt über Twitter zur Kollaboration eingeladen werden.
Das Faszinierende finde ich an dieser Stelle, dass die Einladung zur Mitarbeit bei diesem Ansatz nicht mehr nur vom Lehrenden ausgehen muss. Denn wenn Studierende ebenfalls einen Sandstorm-Account bekommen, können sie selber entscheiden, welche Apps sie installieren und wen sie zur Zusammenarbeit einladen. Sie können spielerisch alles ausprobieren, wovon sie meinen, dass es ihr Lernen unterstützt. Lehrende können in einen Austausch mit ihnen treten, was sie wozu nutzen und was sich als hilfreich erwiesen hat. Das alles geht natürlich jetzt auch schon mit den Anwendungen, die im Netz zur Verfügung stehen. Aber meine Erfahrungen aus der Lehre sind immer wieder, dass außer Facebook, Whatsapp, Dropbox und GoogleDocs nicht viel mehr zum Einsatz kommt. Es ist der Spielplatz, den Sandstorm bietet, den ich als Chance sehe, weil er derselben spielerischen Haltung Vorschub leistet, die man vielleicht von Smartphone-Appstores kennt: “Klingt interessant, das installier’ ich mal. Und wenn’s nichts taugt, dann lösch’ ich es eben wieder.” Dazu kommt, dass die erwünschte SingleSignOn-Lösung, die man sich immer für alles im Web wünschen würde, hier nochmal eine Runde weiter gedreht wird: Waren bisher Google, Twitter und Facebook-Authentifizierungen schon mal ein guter Ansatz, der Registrierungsfaulheit bei verschiedenen Diensten entgegenzuwirken, so hat man hier mit nur einem Login Zugang zu allen möglichen Tools.
Aber auch hier sagt mir die Erfahrung, dass all diese Tools keine Selbstläufer sind. Es braucht konkrete didaktische Einsatzszenarien, in die alle Nutzerinnen und Nutzer eingebunden sind, egal, ob der Anstoß für die Nutzung eines Tools von Lernenden oder Lehrenden ausgeht. Sonst bleibt es beim Spielen.
Sicherheit
Vielen Menschen ist nach den Enthüllungen von Snowden die Kontrolle über die eigenen Daten wichtiger geworden. Eine Anwendung, die selbst gehostet werden kann, ist einem proprietären Service auf jeden Fall vorzuziehen, bringt aber oftmals viel Aufwand für die administrierenden Personen mit sich, da nicht nur die Software selbst immer auf dem neusten Stand gehalten werden muss, sondern auch das Betriebssystem des hostenden Servers. Bei Sandstorm ist dieses Problem noch anders gelagert, da den Anwendungen im App-Markt vertraut werden muss und nicht klar ist, ob die SPK-Datei auch frei von Fehlern und Sicherheitslücken ist.
Die Entwickler sind sich dieses Problems bewusst und gehen es mit einem ausgefeilten Sicherheitskonzept an, das in gekürzter und für den Laien verständlicher Form auf der Features-Seite der Website vorgestellt wird. Von dieser Komplexität ist im Backend von Sandstorm nichts zu spüren. Es gibt Apps und so genannte Grains. Letztere können ein WeKan-Board sein, ein Etherpad oder ein GitLab-Projekt. Diese Grains können untereinander kommunizieren, laufen aber in Sandboxes und sollen keinen Schaden anrichten können, falls die Anwendung Bugs enthält.
Schwächen
Die Schwächen von Sandstorm werden sich erst in der konkreten Nutzung mit Vielen zeigen. Meine Spielereien mit verschiedenen Nutzern und Tools haben allerdings schon einige Erkenntnisse gebracht. Mein didaktisches Testsetting war simpel: Alle Lernenden führen einen Blog und erarbeiten Inhalte zu Fragestellungen, über die sie regelmäßig publizieren. Die Veröffentlichungen werden im RSS-Feedreader TTRSS aggregiert, den jeder Lernende neben dem Blog noch installiert. Weil ich Ghost sehr mag, habe ich mich zunächst gegen Wordpress entschieden. Hier funktionierte allerdings der RSS-Feed nicht und warf beim Aufruf der URL im Browser einen Fehler. Ab hier war klar: Ich werde “unter der Haube” nichts ausrichten können. Das Debugging hört auf Anwenderebene auf, da alle Apps in SPK-Dateien verpackt sind. Also nahm ich Wordpress und war in Sachen RSS-Feed schließlich erfolgreich. Allerdings schien es mir so, dass eine Umstellung von Wordpress auf die Oberflächensprache Deutsch nicht möglich ist, was definitiv ein Nachteil ist. Meine Schlussfolgerung aus diesen beiden Erfahrungen: Die Apps, die man allen zur Verfügung stellen möchte, sollte man selber zum Package machen, sodass individuelle Anforderungen eingelöst werden können und eine Überarbeitung der Apps nicht von den Sandstorm-Entwicklern abhängig ist. Zur Praktikabilität in dieser Hinsicht kann ich an dieser Stelle aber noch nichts sagen.
Fazit
Sandstorm ist definitiv eine Lösung, die Bildungseinrichtungen ausprobieren sollten. Die Chancen stehen gut, dass durch das begrenzte und hochwertige App-Angebot Lehrende und Lernende über ihre Experimente in den Austausch treten, was gut funktioniert in der webgestützten Kollaboration und was nicht.
Einen Umstand finde ich aus Studierendensicht wirklich vielversprechend: In Sandstorm haben alle die gleichen Rechte, Anwendungen für ihre Zwecke zu installieren und ihre Zusammenarbeit individuell zu organisieren. Damit könnten konnektivistische Ansätze wieder an Auftrieb gewinnen.
Um den genannten Schwächen zu begegnen, sollten Wünsche und Verbesserungsvorschläge den Entwicklern zurückgemeldet werden.
Hat jemand schon Erfahrung mit Sandstorm gesammelt und es in Bildungszusammenhängen eingesetzt?
Weitere Quellen
- “5 open source web app alternatives to Google Drive”
- “What owning your personal cloud means for the open source movement”
-
Bitte kommentieren, wenn ich mich irre. ↩︎
-
DigitalOcean hält ein Tutorial vor, das die Installation auf Ubuntu 14.04 erklärt. ↩︎